Quelle: http://janeden.net/6-die-deutsche-frage-im-schatten-der-blockbildung-bis-1955
6 Die deutsche Frage im Schatten der Blockbildung bis 1955
Adenauers Kurs der Westintegration und der Wunsch nach Wiedervereinigung bildeten seit Gründung der Bundesrepublik ein unauflösbares Spannungsfeld für die Deutschlandpolitik. Man warf dem Bundeskanzler vor, Verhandlungsangebote über eine Wiedervereinigung aus Ost-Berlin und Moskau zugunsten einer Stärkung der Bundesrepublik ignoriert zu haben. Tatsächlich wurde die Westbindung von Adenauer in seinen öffentlichen Reden in den Rang einer neuen „Staatsidee“ erhoben, und die Wiedervereinigung, die weiter als oberstes Ziel propagiert wurde, stand in der Praxis hinter dem Schutz der Bundesrepublik zurück. Dies führte zu einem widersprüchlichen Selbstverständnis in der Bundesrepublik, die bis weit in die 50er Jahre hinein kein eigenständiges Staats- und Identitätsbewusstsein entwickelte.
Aber nicht nur Adenauers Festhalten an der Westbindung verhinderte eine Lösung der deutschen Frage. Über die Modalitäten einer Vereinigung herrschten in den beiden deutschen Staaten stark unterschiedliche Auffassungen: Bonn forderte am 22. März 1950 freie gesamtdeutsche Wahlen unter internationaler Kontrolle der UNO und die Wiederzulassung der SPD in der DDR vor Aufnahme der Verhandlungen, Ost-Berlin wollte dagegen in seiner Antwort vom 30. November 1950 zunächst einen von Ost und West paritätisch besetzten Rat bilden („Deutsche an einen Tisch“), zu dem auch Massenorganisationen nach DDR-Vorbild zugelassen sein sollten. Zwischen den Positionen gab es keine Annäherung, bis die Volkskammer der DDR am 15. September 1951 aus taktischen Gründen (Behinderung der EVG-Verhandlungen) auf die westliche Linie einschwenkte und ebenfalls freie gesamtdeutsche Wahlen vorschlug. Der Bundestag blieb bei seiner Forderung nach internationaler Kontrolle, während die SED die Wahlen nur durch die Besatzungsmächte kontrollieren lassen wollte und auf dem Abbruch der EVG-Verhandlungen beharrte. Der Kontrollkommission der UNO, die die UN-Versammlung am 10. Dezember 1951 mit der Prüfung der Wahlbedingungen in Deutschland beauftragt hatte, wurde deshalb die Einreise in die DDR verweigert. Die oppositionelle SPD forderte dennoch weitere Verhandlungen. Als die Bundesregierung ablehnte, war war der deutschlandpolitische Konsens mit der SPD endgültig beendet.
Nachdem der Vorstoß der DDR-Führung erfolglos blieb, griff die Sowjetunion selbst in den Konflikt ein. Stalin richtete am 10. März 1952 ein Schreiben an die übrigen Alliierten (Stalin-Note), in der er den Abschluss eines Friedensvertrages, die Bildung einer gesamtdeutschen Regierung ohne vorherige Wahlen und ein neutrales, von alliierten Truppen verlassenes Deutschland vorschlug. Am 9. April 1952 bekräftigten die Westmächte ihre Forderung nach freien Wahlen, worauf Stalin wie zuvor die DDR-Regierung eine Kommission der Siegermächte zur Kontrolle der Wahlen anregte. Den Westmächten erschien der Vorstoß als Variante der seit 1944/45 betriebenen expansionistischen Politik der Sowjetunion. Sie waren nicht bereit, die inzwischen fortgeschrittene Integration Westdeutschlands in den Westen (Montanunion, EVG) rückgängig zu machen und die Bundesrepublik zugunsten eines bündnisfreien, von Moskau beeinflussbaren Deutschlands aufzugeben. Daher bestanden sie am 13. Mai 1952 auf internationaler Kontrolle freier Wahlen und der Möglichkeit einer gewählten gesamtdeutschen Regierung, über ihre Bündnispolitik frei zu entscheiden. Die außen- und bündnispolitische Optionsfreiheit eines wiedervereinigten Deutschland war natürlich für die Sowjetunion inakzeptabel: Sie hätte damit ihre Kriegsbeute ohne die geringste politische Gegenleistung aus der Hand gegeben. Nach dem Abschluss der Westverträge ging es in der Fortsetzung des Notenwechsels bis in den September hinein nur noch um gegenseitige Schuldzuweisung. Aus der sowjetischen Interessenlage – bestimmende Faktoren waren die noch nicht überwundenen Kriegsfolgen, der Zwang zu schneller Aufrüstung und die schlechte Konsumgüterversorgung – spricht durchaus vieles für die Ernsthaftigkeit des Angebots, um das Kernstück der westlichen Blockbildung zu verhindern und sich um den Preis eines Verzichts auf eine vollständige Ostintegration der DDR einen gewissen Einfluss auf ein blockfreies Gesamtdeutschland zu sichern. Andererseits hätte ein dem sowjetischen Machtbereich entzogenes Deutschland ein falsches Signal an die übrigen sowjetischen Satelliten gegeben hätte.
Adenauer hielt es jedenfalls – im Gegensatz zur SPD, aber auch zu prominenten Mitgliedern der eigenen Partei (Jakob Kaiser) – für zu riskant, in einem Augenblick in die Verhandlungen einzutreten, in dem die westeuropäische Integration noch nicht erreicht war und die unter alliierter Vormundschaft stehende Bundesrepublik keine Mitsprachemöglichkeit hatte. Er ging davon aus, dass schon ein „Drängen“ gegenüber den Westmächten, eventuelle sowjetische Konzessionsbereitschaft „auszuloten“, bei ihnen das alte Misstrauen gegen einen neuen deutschen Sonderweg hervorrufen musste. Das Festhalten des Bundeskanzlers an seiner Prioritätensetzung beendete die bisherige Gemeinsamkeit in der Deutschlandpolitik mit der SPD, die Verhandlungen über die Stalin-Noten forderte. Die Haltung der SPD wurde wie in vielen anderen Fragen durch ihren dominierenden Vorsitzenden Kurt Schumacher geprägt, der einem eigentümlichen Nationalismus anhing und für die Wiedervereinigung auch zu Zugeständnissen an die Sowjetunion bereit war. Abgesehen von dieser Frage von Union und SPD waren sich Kanzler und Oppositionsführer außenpolitisch in ihrem Antikommunismus und der prinzipiellen Option für Westeuropa einig. Der Vorsitzende der Ost-CDU, Jakob Kaiser, plädierte dagegen für eine „Brückenfunktion“ Deutschlands zwischen Ost und West und damit für die von Adenauer gefürchtete und von Gustav Streesemann vor 1933 praktizierte „Schaukelpolitik“. Moskaus Außen- und Deutschlandpolitik in den folgenden Jahren bestätigte Adenauers Linie und diskreditierte seinen innerparteilichen Konkurrenten Kaiser, aber auch die Forderungen der SPD.
In der westdeutschen Öffentlichkeit stieß der Gedanke einer Neutralität– als zwingende Prämisse einer ernsthaften Diskussion der sowjetischen Initiative – schon 1952 nur auf geringe Resonanz, eben weil darin ein hoher Risikofaktor steckte. Demgegenüber versprach Adenauers Politik der Stärke nicht nur Sicherheit, sondern zusätzlich auch die Wiedervereinigung als langfristiges Ergebnis dieser Politik und machte so die Westintegration und Wiederaufrüstung innenpolitisch vermutlich erst konsensfähig und durchsetzbar. Zwar gab es gegenüber der starren Fixierung der Regierungspolitik auf die Westintegration und der rückwärts gewandten Orientierung der Opposition am Nationalstaat flexiblere Konzeptionen wie die des FDP-Politikers Pfleiderer, die von der Legitimität eines starken sowjetischen Sicherheitsbedürfnisses ausgingen und auf den inneren Widerspruch der geforderten gesamtdeutschen Optionsfreiheit verwiesen. Jedoch hatten solche differenzierten Überlegungen keine Chance auf Resonanz. Wenngleich die Einstellungen der Bevölkerung zur Wiederbewaffnung in den Jahren 1950 bis 1953 erheblich schwankten, gab doch die Bundestagswahl von 1953 eine eindeutige Antwort auch auf die Prioritäten in der deutschen Außenpolitik. Seitdem war strittig, ob 1952 eine oder gar die entscheidende Chance zur Wiedervereinigung verpasst worden sei.
Nachdem die USA 1952 durch die Entwicklung der Wasserstoffbombe einen Vorsprung im Rüstungswettlauf erzielt hatten und der amerikanische General Dwight D. Eisenhower 1953 die Präsidentschaftswahlen gewonnen hatte, rückte die westliche Führungsmacht von Trumans Politik einer Eindämmung (containment) des Kommunismus ab. Besonders der neue US-Außenminister John F. Dulles plädierte stattdessen für eine Zurückdrängung (roll-back) der Sowjetunion aus ihrem Einflußgebiet in Osteuropa. Die Gelegenheit schien günstig, denn die sowjetische Führung schien nach dem Tod Stalins am 5. März 1953 unentschlossen und man rechnete mit einer inneren Schwächung der Sowjetunion. Die Entwicklung einer sowjetischen H-Bombe im August 1953 und das Ende des Kora-Krieges beendete allerdings die kurze propagandistische Offensive. Eine deutsche Wiedervereinigung war militärisch nicht zu erreichen, schon die Drohung mit einem Angriff hätte einen sowjetischen Präventivschlag provozieren können. In der durch das nukleare Gleichgewicht bewirkten „Tauwetterperiode“ hieß das Ziel Normalisierung, und die Supermächte entwickelten ein gemeinsames Interesse daran, das Kräfteverhältnis in Mitteleuropa nicht zu verändern. Auch als ein Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953 gewaltsam durch die Rote Armee beendet wurde, hielten sich die Westmächte zurück. Auf einer Außenministerkonferenz der vier Mächte in Berlin (25. Januar – 18. Februar 1954) wurden die bekannten Standpunkte zur deutschen Frage ausgetauscht: der Westen forderte freie Wahlen, Moskau bestand dagegen auf einem Neutralitätsstatus, ergänzt um den Vorschlag, die beiden deutschen Staaten in ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem einzugliedern, allerdings erst nach Auflösung der NATO und dem Rückzug der USA und Großbritanniens vom Kontinent. Mit dieser (künftig wiederholten) Forderung nah einem europäischen Sicherheitspakt zielte die Kreml-Führung darauf ab, den kommunistischen Einfluss in Deuschland zu konsolidieren und der DDR zu völkerrechtlicher Anerkennung zu verhelfen. Im Anschluss an die ergebnislos verlaufene Konferenz wurden der DDR Souveränitätsrechte übertragen, was die DDR-Regierung zum Verhandlungspartner der Bundesrepublik in deutschlandpolitischen Fragen machte. Damit waren die Weichen endgültig auf die getrennte Entwicklung der beiden Teile Deutschlands gestellt. Als Antwort auf die Verstärkung der westlichen Allianz durch die Pariser Verträge schlossen sich Mitte Mai 1955 die acht Staaten des Ostblocks zu einem Militärbündnis unter sowjetischer Führung zusammen (Warschauer Pakt). Kurz darauf erhielt die DDR die volle Souveränität (mit einem „Deutschland als Ganzes“ betreffenden Vorbehalt) durch den Staats- und Freundschaftsvertrag mit der Sowjetunion vom 20. September 1955. Dieser Vertrag wie auch die Gründung des Ostpakts erfolgte in jedem charakteristischen zeitlichen Nachvollzug, wie ihn die Sowjetunion seit 1948 in der Deutschlandpolitik praktiziert hatte. Mit der Integration der beiden deutschen Teilstaaten in die beiderseitigen Militärbündnisse wurde die Teilung Deutschlands gleichsam ratifiziert.
Bis 1958 folgte auch die wirtschaftliche Westintegration der Bundesrepublik: Obwohl die von Adenauer angestrebte Westeuropäische Politische Union 1954 an französischen Vorbehalten gescheitert war, hatte sich zwischen der Bundesrepublik und Frankreich ein Ausgleich angebahnt. Politiker in beiden Ländern und in den Benelux-Staaten drängten auf einer stärkeren wirtschaftlichen Integration der Sechsergemeinschaft über die Montanunion hinaus. Anfang Juni 1955 beschlossen die Außenminister der Mitgliedsstaaten die Bildung eines gemeinsamen Marktes, getragen von gemeinsamen Institutionen. Mit den zeitlich nicht befristeten „Römischen Verträgen“ vom 25. März 1957 verpflichteten sich die Staaten, engere politische Bindungen untereinander zu fördern und schufen zwei supranationale Institutionen: die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM) und die Europäische Wortschaftsgemeinschaft (EWG). Mit dem Inkrafttreten der EWG zum 1. Januar 1958, die auch West-Berlin einbezog, war die Eingliederung des Bundesrepublik in den Westen abgeschlossen.