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Systemversagen des bundesdeutschen Rechtsstaats – 90.000 Hafttage sind pro Jahr zu entschädigen
Rund 90.000 Hafttage müssen in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) pro Jahr entschädigt werden, weil angeklagte Bürger durch Fehlurteile der Justiz unschuldig im Gefängnis gesessen haben. Das teilte der CDU-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Bosbach am Mittwochabend in der ARD-Fernsehdiskussion “Sind Justizirrtümer wirklich Ausnahmen ? – Jahre hinter Gittern” mit. Er gestand ein, dass es sich angesichts der hohen Zahl unschuldig Verurteilter nicht um Einzelfälle, sondern um ein Systemversagen handelt. Als Lösungsvorschlag für die seit Jahrzehnten bestehende Misere nannte er eine neue Kodifizierung des Staatshaftungsrechts. Derzeit sei es versteckt und nur “verstreut in einzelnen Paragraphen” zu finden. Wesentlich deutlicher formulierte die ehemalige Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin das besorgniserregende, im Justiz- und Polizeiapparat herrschende Dilemma. Angesichts der Tatsache, dass es pro unschuldig hinter Gittern verbrachtem Tag nur 25 Euro Entschädigung gebe, handele es sich um eine klare Verletzung der Menschenrechte. Hinzu kämen nämlich noch die kaum ermessbaren Nicht-Vermögensschäden wie gravierende Nachteile im Beruf, in der Familie und bei der Wohnungssuche, die an den Betroffenen meist lebenslänglich kleben bleiben.
Zum Vergleich zu den lächerlichen Entschädigungsbeträgen für unberechtigten Freiheitsentzug wurde das Reiserecht bemüht. Wenn jemandem durch den Tourismus-Veranstalter der Urlaub vermiest wird, erhält er im Durchschnitt eine Entschädigung von 75 Euro pro Tag. Auf noch gigantischere Diskrepanzen wies der ehemalige Vorsitzende Richter am Landgericht Frankfurt am Main, Heinrich Gehrke, hin. Auch wenn ein unschuldig hinter Gitter Gekommener mit 100 Euro entschädigt werden würde, sei es längst nicht genug. In Amerika würde ein derart der Freiheit Beraubter mit Summen bis in den Millionen-Bereich bedacht.
Aufhänger der Debatte war das Schicksal von Harry Wörz aus Baden-Württemberg, der vier Jahre und sechs Monate unschuldig im Gefängnis saß. Er war durch ein Komplott der Pforzheimer Polizei, einseitige Ermittlungen und schlampiges Agieren der Staatsanwalt in einem strafrechtlichen Verfahren rechtskräftig zu elf Jahren Haft verdonnert worden. Erst als die eigentlichen Drahtzieher des Tötungsdelikts übermütig wurden und gegen den Unglücklichen noch einen Schadenersatzanspuch in Höhe von 300.000 DM geltend machen wollten, flog erst im folgenden zivilrechtlichen Verfahren das von der Polizei- und Justizbürokratie errichtete Lügengebäude wie ein Kartenhaus zusammen. Jetzt ist Wörz zwar frei, aber ein physisch und psychisch gebrochener Mann, der seiner Arbeit, Gesundheit und Familie verlustig gegangen ist. Um ihn als Opfer kümmert sich in dem ageblichen Rechtsstaat Bundesrepublik keiner. Noch schlimmer findet Wörz, der selbst an der Diskussion teilnahm, dass nach den wirklichen Tätern des ihm ursprünglich angelasteten Verbrechens nicht mehr gesucht wird. Die Ermittlungen gegen die unter Verdacht stehenden Polizeibeamten wurden eingestellt.
Die verdächtige Eile der Koalition
Der CSU-Politiker Hans-Peter Uhl verteidigt die Hauruck-Novelle.
Es gehe ihm nur um eine Entlastung der Ämter.
Datenschützer sehen nur Wirtschaftsinteressen umgesetzt.
Der Vorsitzende des Bundestagsinnenausschusses kennt das Geschäft.
Wie Adresshändler ihr Geld verdienen, wer ihre Dienste beansprucht,
wie sensibel ihre Ware – die persönlichen Daten der Bürger – ist.
Denn der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach war Berater der walter services GmbH,
einer Telefonmarketingfirma aus Ettlingen.
Bosbach war es, der Mitte Juni einen Brief der InnenexpertInnen von
CSU und FDP erhielt. Hans-Peter Uhl und Gisela Piltz baten ihn darin,
für die Sitzung des Innenausschusses am 27. Juni 2012 den durch die
Koalitionsfraktionen geänderten Entwurf des Meldegesetzes
„zur Beschlussfassung aufzusetzen“.
Das Gesetz, das bereits tags darauf den Bundestag passierte, legt fest,
dass Werbewirtschaft und Adresshändler Zugriff auf die Datensätze der
Bürgerinnen und Bürger haben – es sei denn, die Betroffenen
widersprechen dem ausdrücklich.
Dieser Widerspruch jedoch gilt nicht, wenn der Adressfirma bereits Daten
vorliegen hat. Das Problem: Nur die wenigsten haben noch nie online ein
Buch bestellt, eine Reise gebucht oder bei einer Rabattaktion mitgemacht.
Die Eile, mit der dieses Freifahrtgesetz für Adresshändler durchs Parlament
gebracht wurde, wirkt verdächtig. Erst recht, wenn man bedenkt, dass zuvor
vom Bundeskabinett eine Fassung beschlossen wurde, in der es genau andersherum
geregelt war – nämlich dass die Bürger zustimmen müssen,
wenn ihre Daten herausgegeben werden.
Noch verdächtiger wird es, wenn man weiß, dass laut Geschäftsordnung des
Deutschen Bundestages zwischen der Ausschussberatung und Verabschiedung
eines Gesetzes regulär zwei Tage liegen müssen.
Dass diesmal alles binnen eines Tages in trockene Tücher gebracht werden
sollte – dieser Ausnahmeregelung hatte am 14. Juni der Ältestenrat zugestimmt.
Dessen 25 Mitglieder aus allen Fraktionen hoben die Hand, als es darum ging,
ein vom unionsgeführten Innenministerium vorangetriebenes Gesetz durchs Parlament
zu jagen. Einstimmig. Dass diesmal alles binnen eines Tages in trockene Tücher
gebracht werden sollte – dieser Ausnahmeregelung hatte am 14. Juni der Ältestenrat
zugestimmt. Dessen 25 Mitglieder aus allen Fraktionen hoben die Hand,
als es darum ging, ein vom unionsgeführten Innenministerium vorangetriebenes
Gesetz durchs Parlament zu jagen. Einstimmig.
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